Henry Kissinger: Spuren seiner Kriegsverbrechen

Von Christopher Hitchens

[Auszug aus: Ch.H., »The Case Against Henry Kissinger. Part One: The Making of a War Criminal«, in: Harper<s Magazine, February 2001, p.37-44]

Generalprobe: Das Geheimnis von 1968

Die politische Klasse von Washington hütet ein offenes Geheimnis, das zu gewichtig und zu schrecklich ist, um gelüftet zu werden. Obgleich es unter akademischen Historikern, älteren Reportern, früheren Kabinettsmitgliedern und Ex-Diplomaten allgemein bekannt ist, wurde es doch noch nie zusammenhängend gestellt. Der Grund dafür ist auf den ersten Blick paradox. Das offene Geheimnis ist im Besitz der beiden großen Parteien, und es betrifft unmittelbar die vergangenen Amtsgeschäfte von mindestens drei ehemaligen Präsidenten. Aus diesem Grund hat kein politisches Lager ein besonderes Interesse an seiner Enthüllung. In seiner Wahrheit besteht sozusagen die Garantie seiner Obskurität. Wie Edgar Allan Poes »Gestohlener Brief« liegt dieses Geheimnis ganz offen in jenem Mittelgang, der die amerikanische Zweiparteienherrschaft bezeichnet.

Hier ist das Geheimnis in wenigen Worten. Im Herbst 1968 machten Richard Nixon und einige seiner Abgesandten und Mitarbeiter sich daran, die Pariser Friedensverhandlungen über Vietnam zu sabotieren. Die gewählten Mittel waren einfach: Sie versicherten den Militärführern Südvietnams bei privaten Gesprächen, daß eine künftige republikanische Regierung ihnen ein besseres Verhandlungsangebot als die Demokraten machen würde. Auf diese Weise torpedierten sie sowohl die Gespräche selbst als auch die Wahlstrategie des Vizepräsidenten Hubert Humphrey. In gewisser Hinsicht »funktionierte« diese Taktik. Die südvietnamesische Junta zog sich am Vorabend der Wahl aus den Verhandlungen zurück und zerstörte so die Friedensinitiative, auf die die Demokraten ihren Wahlkampf aufgebaut hatten. In anderer Hinsicht jedoch »funktionierte« die Taktik freilich nicht, denn die Nixon-Administration versuchte vier Jahre später, den Krieg zu genau jenen Bedingungen zu beenden, die bereits in Paris vorgelegen hatten. Der Grund für die Totenstille, die diese Frage immer noch umgibt, ist die Tatsache, daß in diesem Zeitraum ungefähr zwanzigtausend Amerikaner und ungezählte Vietnamesen, Kambodschaner und Laoten ihr Leben verloren. Diese Toten waren also noch viel sinnloser als jene, die vor 1968 abgeschlachtet wurden. Die Einwirkungen dieser vier Jahre auf die Gesellschaften Indochinas und auf die amerikanische Demokratie sind unermeßlich. Der Hauptprofiteur der verdeckten Aktion und der folgenden Schlächtereien war Henry Kissinger.

Ich kann bereits die Wächter des Konsensus ihre stumpfen Federn wetzen hören, um meine »Verschwörungstheorie« zurückzuweisen. Ich nehme die Herausforderung mit Freuden an. Werfen wir zuallererst einen Blick in die Diairies jenes berüchtigten Verschwörers (und Verschwörungstheoretikers) H.R.Haldeman, die im Mai 1994 veröffentlicht wurden. Ich möchte aus zwei Gründen damit beginnen. Erstens, weil man es angesichts einer »Aussage gegen eigene Interessen« für durchaus unwahrscheinlich halten darf, daß uns Haldeman Zeugnisse für seine Mitwisserschaft an einem Verbrechen mitgeteilt hätte - es sei denn, er erzählte uns (posthum) die Wahrheit. Zweitens, weil man jeden einzelnen seiner Tagebucheinträge bis auf seinen Ursprung in anderen dokumentierten Quellen zurückverfolgen kann.

Im Januar 1973 fand sich die Nixon-Kissinger-Administration - als deren Protokollant Haldeman tätig war - an zwei Fronten in heftige Kämpfe verwickelt. In Paris versuchte Henry Kissinger erneut, einen »ehrenvollen Frieden« für Vietnam auszuhandeln. In Washington begann sich die Schlinge um die Einbrecher und Wanzenleger von Watergate allmählich enger zu ziehen.

John Dean sagte bei seiner Vernehmung vor der Watergate-Anhörung, daß wir jedenfalls harte Beweise dafür hätten, daß das [Wahlkampf-]Flugzeug´68 mit Wanzen bestückt war, und er denke, daß wir das als Basis benützen könnten, um zu sagen,wir werden den Kongreß dazu zwingen, in einer Untersuchung sowohl auf ´68 als auch auf ´72 zurückzukommen, und sie auf diese Weise abzuschrecken.

Drei Tage später, am 11.Januar 1973, erfährt Haldeman von Nixon (der in den Tagebüchern als »der P« figuriert):

In der Watergate-Frage wollte er, daß ich mit [dem Justizminister] Mitchell spräche, und dieser solle von [Deke] De Loach [vom FBI] in Erfahrung bringen, ob der Typ, der uns 1968 die Wanzen legte, immer noch beim FBI sei, und dann solle [der stellvertretende Direktor Patrick] Gray ihn mit einem Lügendetektor nageln und das Ganze regeln, was uns die benötigten Beweise liefern würde. Er denkt auch, ich solle zusammen mit George Christian [Präsident Johnsons früherer Pressesprecher, der damals für die«Demokraten für Nixon« arbeitete] LBJ [ Lyndon B. Johnson] dahin bekommen, daß er seinen Einfluß spielen läßt, um die Hill-Untersuchung mit Califano, Hubert, usw. abzuschrecken. Im späteren Verlauf des Tages fand er, dies sei doch keine so gute Idee, und er wies mich an, ich solle es bleiben lassen; glücklicherweise hatte ich es auch noch nicht getan.

Am gleichen Tag berichtet Haldeman, Kissinger habe aufgeregt aus Paris angerufen und gesagt, »er werde eher in Paris als in Hanoi unterschreiben, was der Schlüssel sei«. Auch sprach er davon, der südvietnamesische Präsidenten Thieu solle dazu gebracht werden, »weiterzumachen«. Und einen Tag später:

Der P kam heute auch auf die Watergate-Sache zurück und bemerkte, daß ich mit Connally über den Johnson- Abhör-Prozeß sprechen solle, um seine Meinung darüber zu erfahren, wie damit umzugehen sei. Er frage sich, ob wir nicht einfach Andreas auffahren sollten, um Hubert einen Schreck einzujahen. Das Problem beim Gang zu LBJ sei seine Reaktion, und wir müssten von [Deke] De Loach in Erfahrung bringen, wer es getan habe, und ihn dann einem Lügendetektor unterziehen. Ich sprach am Telefon mit Mitchell über das Thema und er sagte, De Loach habe ihm gesagt, er sei in der Sache auf dem Laufenden, weil er einen Anruf aus Texas hatte. Ein Reporter des »Star« habe letzte Woche oder so darüber recherchiert, und LBJ sei siedend heiß geworden, er habe Deke angerufen und ihm gesagt, daß wenn die Nixon-Leute damit ein Spiel trieben, daß er [AUS GRÜNDEN NATIONALER SICHERHEIT UNKENNTLICH] losließe und sagen werde, unsere Seite fordere, daß bestimmte Dinge getan würden. Mit »unsere Seite« meinte er vermutlich die Nixon-Wahlkampf-Crew. De Loach verstand dies als eine direkte Drohung von Seiten Johnsons. Er erinnerte daran, daß man das Verwanzen der Flugzeuge beantragt, die Idee aber wieder fallengelassen habe, und schließlich bloß die Anrufe überprüft und das Telefon der Drachenlady [Mrs. Anna Chennault] abgehört habe.

Diese administrative Prosa mag mühsam zu lesen sein, doch es bedarf keines besonderen Geheimkodes, um sie zu entschlüsseln. Als der Druck wegen des Watergate-Abhörskandals wuchs, wies Nixon seinen Stabschef, Haldeman, und seinen FBI-Kontaktmann, Deke De Loach, an, den Lauschangriff zu entlarven, dem sein eigener Wahlkampf 1968 ausgesetzt gewesen war. Gleichzeitig wollte er mithilfe von älteren Demokraten wie dem texanischen Gouverneur John Connally den früheren Präsidenten Johnson aushorchen, um seine mögliche Reaktion auf diese Enthüllungen abzuschätzen. Sein Ziel war es, zu zeigen, daß »jeder es tut«. (Ein anderes Paradox des Zweiparteiensystems ist es, daß in Washington der Slogan »Alle tun es« eher als Verteidigungsargument denn, wie man hoffen könnte, als Pladöyer für eine Strafverfolgung angesehen wird). Es stellt sich hier jedoch sogleich ein Problem: Wie den Lauschangriff von 1968 enthüllen, ohne zugleich das zu enthüllen, was da belauscht wurde ? Deshalb überlegt Nixon sich den Plan noch einmal (»..keine so gute Idee«). In seiner ausgezeichneten Einleitung zu den Haldeman Diairies charakterisiert der Nixon-Biograph Professor Stephen Ambrose das 73er-Vorhaben gegenüber Lyndon Johnson als »prospektive Erpressung« in der Absicht, hinter den Kulissen Druck auszuüben, um eine Untersuchung des Kongresses zu vermeiden. Doch gleichzeitig weist er darauf hin, daß Johnson kein bloßes Opfer war, sondern selbst Erpressungsmaterial in der Hand hatte. Professor Ambrose weist darauf hin, daß die »Tagebücher« durch den Nationalen Sicherheitsrat (NSC) überprüft wurden und daß die markierte Auslassung »die einzige Passage des Buches ist, wo es unter der Carter-Administration zu einer durch den NSC erzwungenen Auslassung kam«. »Acht Tage später wurde Nixon in seine zweite Amtszeit eingeführt«, schreibt Ambrose weiter. »Zehn Tage später starb Johnson an einer Herzatttacke. Was Johnson gegen Nixon in der Hand hatte, werden wir wohl nie mehr erfahren«.

Diese Schlußfolgerung des Professors ist wohl etwas zu vorsichtig. Es gibt das wohlverstandene Prinzip der »gegenseitigen gesicherten Zerstörung« (Mutually Assured Destruction), bei der beide Seiten mehr als genug Material besitzen, mit dem sie die andere Seite vernichten können. Die Antwort auf die Frage, was die Johnson-Administration gegen Nixon »in der Hand« hatte, ist relativ einfach. Sie wurde in einem Buch mit dem Titel »Counsel to the President« gegeben, das 1991 veröffentlicht wurde. Sein Autor war Clark Clifford, ein exzellenter Washington-Insider, der beim Schreiben von Richard Holbrooke, dem früheren Außen-Staatssekretär und aktuellen UN-Botschafter, unterstützt wurde. 1968 war Clark Clifford Verteidungsminister, und Richard Holbrooke war ein Mitglied der amerikanischen Delegation bei den Vietnam-Friedensgesprächen in Paris.

Auf seinem Pentagon-Schreibtisch bekam Clifford Mitschriften des Nachrichtendienstes zu lesen, der überwacht und dokumentiert hatte, was Clifford eine »persönliche Geheimverbindung« zwischen Präsident Thieu in Saigon und der Nixon-Kampagne nennt. Der Hauptgesprächspartner am amerikanischen Ende war John Mitchell, damals Nixons Wahlkampf-Manager und später sein Justizminister (und noch später Gefangener Nr. 2411171-1157 im Gefangenenlager der Maxwell Air Force Base). Er wurde aktiv unterstützt durch Madame Anna Chennault, überall bekannt als die »Drachenlady«. Als grimmige Veteranin der Taiwan-Lobby und Allzweck-Intrigantin des rechten Lagers, war sie damals auf dem Parkett Washingtons eine politisch-gesellschaftliche Kraft, die durchaus eine eigene Biographie verdiente.

Clifford beschreibt ein privates Treffen, bei dem er, Präsident Johnson, Außenminister Dean Rusk und der Sicherheitsberater Walt Rostow anwesend waren. Skrupellos wie man war, hatte man den Vizepräsidenten Humphrey ausgeschlossen. Dennoch erbleichten diese Falken, als sie mit den offenkundigen Beweisen für Nixons Verrat konfrontiert waren. Nichtsdestotrotz beschlossen sie, mit ihrem Wissen nicht an die Öffentlichkeit zu gehen. Clifford sagt, dies sei deshalb geschehen, weil eine solche Enthüllung die Pariser Gespräche völlig ruiniert hätte. Er hätte hinzufügen können, daß dies auch eine Vertrauenskrise gegenüber den amerikanischen Institutionen ausgelöst hätte. Es gibt bestimmte Dinge, die man den Wählern nicht anvertrauen kann. Und selbst wenn der Lauschangriff legal gewesen war, hätte eine solche Aktion nicht nach einem fairem Verhalten ausgesehen. (Der Logan Act verbietet es jedem Amerikaner kategorisch, private diplomatische Beziehungen mit einer fremden Macht einzugehen.)

In jedem Fall zog sich Thieu aus den Verhandlungen zurück und ließ sie genau drei Tage vor der Wahl platzen. Clifford hatte keine Zweifel, wer ihm diesen Schritt geraten hatte:

Die Aktivitäten des Nixon-Teams gingen weit über die Grenzen des vernünftigen politischen Wettstreits hinaus. Es handelte sich um einen direkten Eingriff in die Aktivitäten des Arms der Exekutive und in die Verantwortung des Chief Executive, die einzigen Menschen, die im Namen der Nation Verhandlungen führen konnten. Die Aktivitäten der Nixon-Kampagne konstituierten eine massiven, ja potentiell ungesetzlichen Eingriff in die Sicherheitsbelange der Nation durch Privatpersonen.

Clifford, der sich der Schwäche seiner Rechtsanwalts-Prosa vielleicht bewußt und wohl auch ein wenig beschämt darüber war, daß er dieses Geheimnis für die Memoiren aufbewahrt hatte, anstatt es mit den Wählern zu teilen, fügt dann noch in einer Fußnote hinzu:

Man sollte nicht vergessen, daß die Öffentlichkeit in den Tagen vor den Watergate-Anhörungen und dem CIA-Untersuchungsausschuß des Senats von 1975 in solchen Dingen noch viel unschuldiger war.

Vielleicht war die Öffentlichkeit damals tatsächlich eben deshalb viel unschuldiger, weil es solche weißbeschuhten Advokaten wie Clifford gab, die bestimmte Dinge für zu profan hielten, um sie an die große Glocke zu hängen. Heute behauptet er, er sei damals dafür gewesen, Nixon privat mit der Enthüllung zu konfrontieren und zum Rücktritt zu zwingen, oder andernfalls das Ganze öffentlich zu machen. Vielleicht war das in der Tat seine Ansicht.

Ein etwas aufgeklärteres Zeitalter des investigativen Journalismus hat uns inzwischen mehrere verbesserte Versionen dieser erschreckenden Episode geliefert. Übrigens auch die sehr vorsichtigen Memoiren von Richard Nixon selbst. Es brauchte mehr als einen »Geheimkanal«, damit die Republikaner die Pariser Friedensverhandlungen destabilisieren konnten. Es musste - wir sahen es bereits - eine geheime Kommunikation geben zwischen Nixon und den Südvietnamesen. Doch es brauchte auch einen Informanten aus dem Regierungslager, eine Quelle von Andeutungen, Tips und frühen Hinweisen auf die offiziellen Absichten. Dieser Informant war Henry Kissinger. In seinem Erinnerungen (RN: The Memoirs of Richard Nixon) erzählt uns der in Ungnaden gefallene Staatsmann, daß er Mitte September 1968 von privater Seite einen Hinweis auf einen geplanten Bombenstop erhalten habe. Mit anderen Worten: Die Johnson-Administration würde im Blick auf die Verhandlungen eine Aussetzung ihrer Bombenangriffe auf Nordvietnam erwägen. Diese höchst nützliche Vorabinformation, so erklärt uns Nixon, kam »durch einen höchst ungewöhnlichen Kanal«. Er war sogar noch ungewöhnlicher, als er zugeben wollte. Kissinger war bis dahin ein ergebener Parteigänger von Nelson Rockefeller, dem konkurrenzlos reichen Prinz des liberalen Republikanismus. Er machte keinen Hehl aus seiner Verachtung für die Person und Politik Richard Nixons. Tatsächlich betrachtete die amerikanische Delegation in Paris, die durch Averell Harriman geleitet wurde, Kissinger fast als einen der ihren. Als Rockefellers wichtigster außenpolitischer Berater hatte er sich nützlich machen können, weil er französische Mittelsmänner mit eigenen Kontakten in Hanoi kannte. »Henry war die einzige Person außerhalb der Regierung, mit dem wir über die Verhandlungen sprechen durften«, berichtete Richard Holbrooke dem Kissinger-Biographen Walter Isaacson. »Wir vertrauten ihm. Insofern stimmt es schon, daß Nixons Wahlkämpfer über eine geheime Quelle in der Verhandlungsdelegation verfügten«.

Die Wahrscheinlichkeit eines Bombenstops, schreibt Nixon, »war für mich keine wirkliche Überraschung«. Er fügt hinzu: »Ich erzählte Haldeman, daß Mitchell mit Kissinger in Verbindung bleiben solle und daß wir seinen Wunsch respektieren sollten, seine Rolle völlig vertraulich zu behandeln«. Es ist unmöglich, daß Nixon über die Paralleldiplomatie seines Wahlkampfmanagers mit einer fremden Macht nicht im Bilde war. So begann, was in Wirklichkeit eine innenpolitische Geheimoperation war und darauf abzielte, sowohl die Friedensverhandlungen zu durchkreuzen als auch den Wahlkampf Hubert Humphrey zu stören.

Gegen Ende des Monats, am 26.September, so berichtet Nixon in seinen Memoiren, »rief Kissinger erneut an. Er sagte, daß er gerade aus Paris zurückgekehrt sei, wo er etwas erfahren habe, daß in Sachen Vietnam etwas Großes im Gange sei. Er riet mir, wenn ich mich in der kommenden Woche irgendwie über Vietnam äußern müsse, neue Ideen oder Vorschläge am besten vermeiden.« Am gleichen Tag lehnte Nixon das Angebot Humphreys für eine direkte Debatte ab. Am 12.Oktober meldete sich Nixon ein weiteres Mal und ließ durchblicken, daß bereits für den 23.Oktober ein Stop der Bombardierungen geplant war. Und so hätte es dann auch kommen können. Doch immer dann, wenn die nordvietnamesische Seite sich dem Abkommen näherte, präsentierten die Südvietnamesen plötzlich zusätzliche Forderungen. Wir wissen heute, warum dies so kam und wieso dies geschah und wie die beiden Hälften der Strategie ineinander griffen. Bereits im Juli hatte sich Nixon in aller Seelenruhe mit Bui Diem, dem Botschafter Südvietnams, getroffen. Der Kontakt war durch Anna Chennault zustande gekommen. Ein Lauschangriff auf die Büros der Südvietnamesen in Washington und die Überwachung der »Drachenlady« zeigen, wie dieses Obstruktionsunternehmen funktionierte. In einem abgefangenen Telegramm kabelte Diem an jenem fatalen 23.Oktober an Präsident Thieu: »Viele republikanische Freunde haben mich kontaktiert und ermutigen uns, fest zu bleiben. Sie wurden durch Presseberichte alarmiert, daß Sie bereits ihre Position abgeschwächt hätten«. Die Instruktionen für diese Überwachungsoperation liefen über einen gewissen Cartha DeLoach, unter seinen Mitarbeitern bekannt als »Deke«, der J.Edgar Hoovers FBI-Verbindungsoffizier zum Weißen Haus war. Wir sind ihm bereits in den Diairies von H.R.Haldeman begegnet.

1999 erhielt der Autor Anthony Summers endlich Zugang zu geschlossenen FBI-Akten der Überwachung der Nixon-Kampagne, die er in seinem Buch »The Arrogance Of Power. The Secret World of Richard Nixon« (2000) veröffentlichte. Er hatte auch die Gelegenheit, Anna Chennault zu interviewen. Diese beiden Durchbrüche lieferten ihm etwas, was man die »smoking gun« der Verschwörung von 1968 bezeichnen kann - das entscheidende, schlagende Beweisstück. Ende Oktober 1968 war John Mitchell wegen der offiziellen Abhöraktionen nervös geworden und er nahm keine Telefongespräche von Chennault mehr entgegen. Präsident Johnson selbst hatte damals in einer Telefonkonferenz mit den drei Kandidaten Nixon, Humphrey und Wallace bereits durchblicken lassen, daß er über die versteckten Störversuche gegen seine Vietnam-Diplomatie durchaus im Bilde war. Dieser Anruf löste im engeren Nixon-Kreis eine regelrechte Panik aus und veranlasste Mitchell, Chennault im Sheraton Park Hotel anzurufen. Er bat sie dann, ihn auf einer abhörsicheren Leitung zu kontaktieren. »Anna«, erklärte er, »Ich spreche im Namen von Mister Nixon. Es ist sehr wichtig, daß unsere vietnamesischen Freunde unsere republikanische Position verstehen, und ich hoffe, daß Sie sie ihnen verdeutlichen... Denken Sie, daß sie wirklich beschlossen haben, nicht nach Paris zu gehen ?«.

Das wiederhergestellte FBI-Dokument zeigt, was als nächstes geschah. Am 2.November 1965 berichtete der Agent:

MRS ANNA CHENNAULT KONTAKTIERTE VIETNAMESISCHEN BOTSCHAFTER, BUI DIEM, UND INFORMIERTE IHN, DAß SIE EINE BOTSCHAFT VON IHREM BOß (NICHT WEITER IDENTIFIZIERT) ERHALTEN HABE, DIE SIE PERSÖNLICH, WIE IHR BOß VERLANGTE, DEM BOTSCHAFTER WEITERGEBEN SOLLTE. SIE SAGTE, DIE BOTSCHAFT FÜR DEN BOTSCHAFTER LAUTE »FEST BLEIBEN, WIR WERDEN GEWINNEN« UND DAß IHR BOß AUCH SAGTE »FEST BLEIBEN, ER WIRD ALLES VERSTEHEN«. SIE WIEDERHOLTE, DIES SEI DIE EINZIGE BOTSCHAFT. »ER SAGTE, BITTE SAGEN SIE IHREM BOß, ER SOLLE FEST BLEIBEN«. SIE FÜGTE HINZU, DAß IHR BOß GERADE AUS NEW MEXICO ANGERUFEN HABEN.

Spiro Agnew, Nixons »zweiter Mann« und Kandidat für die Vizepräsidentschaft, war zum Wahlkampf an diesen Tag in Albuquerque, New Mexico, unterwegs, und die weiteren Geheimdienst-Analysen ergaben, daß er selbst und ein anderes Mitglied seines Teams (das hauptsächlich mit Vietnam befaßt war) in der Tat mit dem Chennault-Lager in Kontakt getreten waren.

Der unvergleichliche Vorteil dieser Situation - auf der einen Seite ein indiskreter Kissinger, auf der anderen Seite Anna Chennault und John Mitchell mit ihrer privaten Außenpolitik - lag auf der Hand: Nixon blieb auf diese Weise davor bewahrt, in den öffentlichen Disput um einen Bombenstop hineingezogen zu werden. So konnte er gleichzeitig den Eindruck erwecken, es seien die Demokraten, die mit diesem Thema ihr politisches Spiel trieben. Am 25.Oktober bediente er sich in New York dieser Nadelstich-Taktik, indem er eine versteckte Andeutung machte, die er aber gleichzeitig wieder verleugnete. Von Lyndon B. Johnsons Pariser Diplomatie sagte er : »Man hat mir auch gesagt, daß diese Endspurt-Aktivitäten ein zynischer Versuch Präsident Johnsons sind, in letzter Minute die Kandidatur von Mr. Humphrey zu retten. Ich kann das nicht glauben.«

Kissinger zeigte ein ähnliches Talent, mithilfe von zwei Extremen die Mitte auszuspielen. Im Spätsommer, auf der Ferieninsel Martha`s Vineyard hatte er die Nixon-Dossiers aus Nelson Rockefellers Pressearchiv Professor Samuel Huntington angeboten, einem engen Berater von Hubert Humphrey. Doch als Huntingtons Kollege und Freund Zbigniew Brzezinski auf dieses Angebot zurückkommen wollte, wurde Kissinger scheu: »Ich hasse Nixon seit Jahren«, erklärte er Brzezinski, doch die Zeit war noch nicht ganz reif für eine Übergabe. Es war in der Tat eine sehr knappe Wahl, bei der am Ende ein paar hunderttausend Stimmen den Ausschlag geben sollten, und viele erfahrene Beobachter glauben, daß der letzte Ausschlag dadurch gegeben wurde, daß Johnson am 31.Oktober einen Bombenstop anordnete und die südvietnamische Seite ihn dann düpierte, als sie die Friedensgespräche zwei Tage später boykottierte. Wären die Dinge jedoch anders gelaufen, kein Zweifel, Kissinger wäre ein Spitzenposten in der Humphrey-Adminstration sicher gewesen.

Die Hauptelemente dieser Geschichte erscheinen sowohl in Haldemanns Tagebuch wie in Cliffords Studie - wenn auch mit geringfügig anderer Akzentuierung. Teilweise erwähnt werden sie auch in der Autobiographie Johnsons »The Vantage Point« und in einer langen Reflexion über Indochina von William Bundy - einem der Architekten des Krieges -, die eher reumütig »The Tangled Web« betitelt war. Ältere Mitglieder des Pressecorps, etwa Jules Witcover in seiner Geschichte des Jahres 1968 , Seymour Hersh in seiner Kissinger-Studie, und Walter Isaacson, der »Time«-Herausgeber und kritisch-bewundernde Nixon-Biograph, haben nahezu übereinstimmende Schilderungen dieser abgründigen Episode geliefert. Der einzige Bericht, der ganz und gar unzutreffend ist, egal welchen literarischen oder historischen Standard man anlegt, findet sich in den Memoiren von Henry Kissinger selbst. Er schreibt lediglich dies:

Verschiedene - teils selbsternannte - Abgesandte Nixons riefen mich an und baten mich um Rat. Ich vertrat die Position, daß ich spezifische außenpolitische Fragen beantworten, aber keine allgemeinen Ratschläge oder eigenständige Vorschläge erteilen würde. Dies war auch die Antwort, die ich bei entsprechenden Anfragen aus dem Lager Humphreys gab.

Dies widerspricht sogar den selbstgefälligen Erinnerungen Richard Nixons - jenes Mannes, der durch unlautere Mittel die Wahlen von 1968 gewonnen hatte und Henry Kissinger in einer seiner ersten Ernennungen zu seinem Sicherheitsberater machte. Man möchte zwar keinen Lügenwettbewerb zwischen den beiden Männern zu entscheiden haben, aber als Richard Nixon seine Wahl traf, war er Henry Kissinger persönlich erst einmal begegnet - es war ein kurzes, unangenehmes Zusammentreffen. Seine Wertschätzung für die Fähigkeiten des Mannes hatte sich gewiß bei einer überzeugenderen Gelegenheit als dieser geformt. »Was mich am meisten von Kissingers Glaubwürdigkeit überzeugte«, schrieb Nixon später in seiner eigenen, deliziösen Prosa, »waren die umfangreichen Vorkehrungen, die er traf, um sein Geheimnis zu waren«.

Das garstige Geheimnis ist nun heraus. Im Januar 1969, wenige Tage nach seiner Ernennung als Nixons rechte Hand, publizierte Kissinger in »Foreign Affairs«, dem Hausblatt des außenpolitischen Establishments, seine eigene Beurteilung der Vietnam-Verhandlungen. In jedem substanziellen Punkt stimmte er mit der Verhandlungsstrategie der Johnson-Humphrey-Delegation überein. Man braucht einen Augenblick, um sich die Enormität dieser Tatsache klarzumachen. Kissinger hatte mitgeholfen bei der Wahl eines Mannes, welcher der südvietnamesischen Junta heimlich ein besseres Verhandlungsergebnis versprochen hatte, als es die Demokraten anbieten würden. Die Autoritäten in Saigon hatte gehandelt, wie Bundy reuevoll bestätigt, als hielten sie tatsächlich ein Verhandlungsergebnis in den Händen. Dies bedeutete nicht anderes als »vier weitere Jahre«, wie ein späterer Wahlkampf-Slogan Nixons lautete - Four More Years. Doch hier handelte es sich um vier weitere Jahre eines ungewinnbaren, unerklärten und mörderischen Krieges, der noch ausgeweitet werden sollte, bis er dann ausbrannte, und der zu denselben Bedingungen beendet werden sollte, die bereits im Herbst 1968 auf dem Verhandlungstisch lagen.

Dies war der exakte Preis für den Karrieresprung Henry Kissingers. Für seine Verwandlung aus einem mittelmäßigen, opportunistischen Intellektuellen in einen internationalen Potentaten. Die charakteristischen Eigenschaften waren da von Anfang an: die Speichelleckerei und das Doppelspiel; der Kult der Macht und die Skrupellosigkeit; der leere Austausch von alten Nicht-Freunden mit neuen Nicht-Freunden. Und die typischen Resultate waren ebenfalls vorhanden: die ungezählten, überflüssigen Leichen; die offiziellen und inoffiziellen Lügen über die Kosten; die übertriebene, pompöse Pseudo-Empörung, wenn unwillkommene Fragen gestellt wurden. Kissingers globale Karriere begann genau nach jenem Muster, von dem sie dann bestimmt werden sollte. Sie verdarb die amerikanische Republik und die amerikanische Demokratie und sie belegte schwächere, verwundbarere Gesellschaften mit einem grauenhaften Blutzoll.

Das Kriegsverbrechen: Bomben für Wählerstimmen

Auch wenn man sich zwangsläufig auf die nackten Fakten konzentrieren muß, darf man doch nie das surrealistische Element aus den Augen verlieren, das Henry Kissinger umgibt. Bei einem Besuch in Vietnam Mitte der Sechziger Jahre, als viele technokratische Opportunisten noch überzeugt waren, daß das Land einen Krieg wert sei und dieser auch gewonnen werden konnte, urteilte der junge Henry über den ersten Punkt sehr reserviert und entwickelte hinsichtlich des zweiten beträchtliche, private Zweifel. Er war soweit gegangen, sich an einer Initiative zu beteiligen, die auch eine direkte, persönliche Kontaktaufnahme mit Hanoi einschloß. Raymond Aubrac, ein französischer Zivilbeamter, der ein Freund Ho Chi Minhs war, und Herbert Marcovich, ein französischer Mikrobiologe, unternahmen eine Serie von Stippvisiten nach Nordvietnam. Nach ihrer Rückkehr gaben sie Kissinger in Paris genauen Bericht. In Washington ließ Kissinger seinerseits diese Informationen in Gespräche auf höchster Ebene einfließen: Verteidigungsminsiter Robert McNamara wurde so über die aktuellen oder möglichen Verhandlungspositionen von Pham Van Dong und anderen kommunistischen Staatsmännern informiert. (Am Ende machte die pausenlose Bombardierung des Nordens freilich jeden diplomatischen »Brückenbau« unmöglich. Besonders die heute vergessene Zerstörung der Paul-Doumer-Brücke durch die Amerikaner empörte die vietnamesische Seite.)

Diese schwerelose Mittelposition, die letztlich auch sein Doppelspiel im Jahre 1968 möglich machte, erlaubte es Kissinger, sich Gouverneur Rockefellers sozusagen zum Sprachrohr zu machen und gleichsam indirekt eine zukünftige Entspannung mit Amerikas hauptsächlichen Rivalen vorzuschlagen. In seiner ersten großen Ansprache zur Bewerbung als republikanischer Präsidentschaftskandidat sprach Rockefeller lauthals davon, wie »wir in einem subtilen Dreieck mit dem kommunistischen China und der Sowjetunion unsere Beziehungen mit beiden letztlich verbessern könnten - wenn wir den Friedenswillen von beiden auf die Probe stellen«[Hervorhebung von Ch.H.].

Diese Vorwegnahme einer späteren Kissinger-Strategie mag auf den ersten Blick eine geradezu prophetische Vorahnung illustrieren. Doch Gouverneur Rockefeller hatte ebensowenig wie Vizepräsident Humphrey Grund zu der Annahme, daß sein ambitiöser Berater in das Nixon-Team desertieren und jene Entspannungspolitik dann gleichzeitig aufs Spiel setzen und verschieben würde, um später die Lorbeeren für eine verschlechterte Kopie derselben zu erhalten.

Moralisch gesprochen behandelte Kissinger das Konzept der Annäherung der Supermächte in derselben Weise, wie er das Konzept einer Verhandlungslösung für Vietnam behandelt hatte - als eine Materie, die sich seinen eigenen Interessen zu fügen hatte. Es gab eine Zeit, um als Unterstützer dieser Annäherung aufzutreten, und eine Zeit, um dieses Konzept als schlecht durchdacht und gefährlich zu brandmarken. Und es gab schließlich die Zeit, dafür die Lorbeeren einzuheimsen. Einige von denen, die in Indochina »Befehle ausführten«, mögen sich mit dieser zweifelhaften Sprachregelung rechtfertigen. Sogar einige von denen, die damals die Befehle erteilten, mögen uns heute erzählen, daß sie damals nach besten Wissen und Gewissen handelten. Doch Kissinger kann sich nicht hinter dieses Alibi zurückziehen. Er wußte immer, was er tat, und ließ sich auf eine zweite Runde verlängerter Kriegführung ein, nachdem er wissentlich mitgeholfen hatte, eine Friedensalternative zu zerstören, an deren Realisierbarkeit er selbst nie Zweifel haben konnte. Dies gibt der Anklage gegen ihn besonderes Gewicht. Es bereitet uns auch auf seine improvisierte, nachträgliche Verteidigung gegen diese Vorwürfe vor - also auf die Behauptung, daß seine immensen Verwüstungen ja letztendlich »Frieden« herbeigeführt hätten. Als er im Oktober 1972 ankündigte, daß »Frieden in Reichweite ist«( peace is at hand ), war das eine prahlerische, falsche Behauptung, die er 1968 hätte machen können. Und als er die Anerkennung für die folgende Annäherung der Supermächte beanspruchte, verkündete er das Resultat einer korrupten Geheimdiplomatie, die einmal als offene, demokratische Außenpolitik konzipiert worden war. In der Zwischenzeit hatte er amerikanische Bürger und öffentliche Bedienstete illegaler Belauschung und Überwachung ausgesetzt - Leute, deren Bedenken wegen des Krieges mild waren verglichen mit den Ansichten der Herren Aubrac und Marcovich. Angesichts der Rekonstruktion dessen, was die Rechtsanwälte mens rea (»schuldiger Geist«) - nennen, darf man in Kissingers Fall sagen, daß er ein volles Bewußtsein seiner Taten hatte - und für diese folglich auch die volle Verantwortung trägt.

Als er im Winter 1969 seinen Dienst für Richard Nixon aufnahm, fiel Kissinger gleich in zweierlei Hinsicht die Rolle zu, königlicher zu sein als der König. Einerseits hatte er die Aufgabe, für die Strafaktionen auf dem bereits verwüsteten Kriegsschauplatz von Vietnam eine glaubwürdige Begründung auszuarbeiten; andererseits sollte er auf Wunsch seines Prinzipals eine Art Bollwerk zwischen dem Weißen Haus und dem Außenministerium bilden. Der Ausdruck »zweispurig« sollte später zu einem Gemeinplatz werden. Kissinger Position »in beiden Spuren«, gekennzeichnet durch exorbitante Gewalt im Ausland und offenkundige Rechtsbrüche zu Hause, stand vom Beginn an fest. An Geschmack an der Sache schien es ihm in beiden Bereichen nicht gefehlt zu haben. Man hofft verzweifelt, daß nicht dies schon das ganze »Aphrodisiakum der Macht« war...

Präsident Johnsons »Bombenstop« hatte in jedem Fall nicht sehr lange gedauert - selbst wenn man sich daran erinnert, daß seine ursprüngliche Versöhnungsabsicht auf hinterhältigste Weise vereitelt wurde. Averell Harrimann, der Johnsons Chefunterhändler in Paris gewesen war, bezeugte später vor dem Kongreß, die Nordvietnamesen hätten im Oktober und November 1968 neunzig Prozent ihrer Truppen aus den zwei nördlichen Provinzen Südvietnames zurückgezogen - in Übereinstimmung mit dem Abkommen, zu dem auch der »Stop« seinen Teil beitragen sollte. In dem neuen Kontext jedoch konnte der Rückzug als Zeichen der Schwäche interpretiert werden - oder sogar als »Licht am Ende des Tunnels«.

Die historische Dokumentation über den Indochina-Krieg ist umfangreich, und die daraus resultierende Kontroversen sind es nicht minder. Nachdem der Krieg auf unnatürliche, undemokratische Weise verlängert worden war, bedurfte es noch unverschämterer Methoden ihn auszufechten, und auch die Ausreden, die zu seiner Rechtfertigung nötig waren, wurden immer phantastischer. Wir wollen im folgenden vier zusammenhängende Fälle betrachten, in denen man die Zivilbevölkerung bewußt einer wahllos mörderischen Gewalt aussetzte, die Gewohnheitsrechte des Krieges und der Neutralität verletzte und absichtlich log, um diese und andere Fakten zu vertuschen.

Der erste dieser Fälle zeigt, was Vietnam erspart geblieben wäre, wenn man die Pariser Friedensverhandlungen 1968 nicht sabotiert hätte. Im Dezember 1968, in der Übergangsperiode zwischen den Administrationen Johnsons und Nixons verlegte sich das militärische Oberkommando auf etwas, was General Creighton Abrams einen »totalen Krieg« gegen die »Infrastruktur« der Vietkong/Nationalen Befreiungsfront-Rebellen nannte. Das Haupziel dieser Kampagne war eine sechsmonatige »Säuberungsaktion« in der Provinz von Kien Hoa. Der Kodename für dies Aktion lautete »Speedy Express«.

Es mag - aus theoretischer Sicht - gerade noch vorstellbar sein, daß eine solche Taktik nach dem internationalen Recht und den Verfassungen, die die souveränen Rechte der Selbstverteidigung regeln, gerechtfertigt werden könnte. Doch eine Nation im Besitz jener überwältigenden Vernichtungskraft,wie sie oben beschrieben wurde, dürfte wohl kaum selbst in die Situation der Defensive geraten. Und noch unwahrscheinlicher dürfte es sein, daß diese Nation sich auf ihrem eigenem Boden gegen Feinde verteidigen muß. So kämpfte die Nixon-Kissinger-Administration in Vietnam also nicht ums Überleben - oder höchstens in einem ganz merkwürdigen Sinne. Dieser ungewöhnliche Sinn, in dem dieser Krieg zu einer Überlebensfrage wurde, wird ebenfalls von dem posthumen Zeugnis von H.R.Haldeman grell beleuchtet. Von seiner Beobachtungsposten an der Seite Nixons beschreibt er am 15.Dezember 1970 eine typische Szene à la Kissinger:

K[issinger] kam herein und die Diskussion betraf allgemein die Vietnam-Frage und den großen Friedensplan des Präsidenten für nächstes Jahr, den K nicht billigte, wie er mir später sagte. Er denke, daß jeder Rückzug nächstes Jahr ein schwerer Fehler wäre, weil die Gegenreaktionen auf ihn bereits lange vor den Wahlen von 1972 einsetzen könnten. Er befürworte stattdessen ein kontinuierliches Herunterschrauben und dann einen Rückzug genau im Herbst 1972, so daß eventuell folgende Negativreaktionen zu spät kämen, um die Wahl noch zu beeinflussen.

Haldeman nimmt hier wahrlich kein Blatt vor den Mund. Und dieses freimütige Zeugnis gibt uns einer von Nixons engsten Mitarbeitern, der keine Absicht haben konnte, die Wiederwahl von ´72 in ein schlechtes Licht zu rücken. Tatsächlich äußert sich Kissinger in The White House Years, im ersten Band seiner eigenen Memoiren, fast ebenso deutlich. Der Kontext ist ein Treffen mit General de Gaulle, bei dem der alte Kämpfer wissen wollte, mit welchem Recht die Nixon-Administration Indochina schwersten Bombardierungen aussetze. In seinem eigenen Bericht antwortet Kissinger, daß »ein plötzlicher Rückzug uns ein Glaubwürdigkeitsproblem beschert hätte«. (Als er gefragt wurde »Wo?« wies Kissinger verschwommen auf den Nahen Osten.) Man darf nicht vergessen, daß der zukünftige Schmeichler von Mao und Breshnew schwerlich behaupten konnte, er führe in Indochina Krieg, um diesen beiden Mächten entgegenzutreten. Und ganz gewiß erlaubte er sich eine solche schwache Ausrede nicht gegenüber Charles de Gaulle. In der Tat war der Befürworter von Geheimgesprächen mit China in keiner sehr starken Position, um zu behaupten, er bekämpfe den Stalinismus im allgemeinen. Nein, es lief alles auf »Glaubwürdigkeit« und »Gesichtswahrung« hinaus. Es ist bekannt, wieviele Menschen von Nixons und Kissingers Amtsantritt bis zu jenem Tag im Jahr 1973, als sie die amerikanischen Streitkäfte zurückzogen und die Logik von 1968 akzeptierten, in Indochina ihr Leben verloren: 20763 Amerikaner, 109230 südvietnamesische und 496260 nordvietnamesische Soldaten. Müssen die Familien dieser Opfer also der Tatsache ins Auge sehen, daß die wichtigsten Gesichter, die hier gewahrt werden sollte, diejenigen von Nixon und Kissinger waren ?

Die sogenannten »Weihnachts-Bombardierungen« Nordvietnams, die auch nach gewonnener Wahl weiterging, müssen in jedem Fall als Kriegsverbrechen gerechnet werden. Es gab keinerlei »militärische Gründe« für diese Bombardierungen, dafür ein doppeltes politisches Motiv. Das erste Motiv lag in der Innenpolitik: Es ging um eine Demonstration der Stärke gegenüber Extremisten im Kongreß und um ein Mittel, um die Demokratische Partei in die Defensive zu bringen. Das zweite Motiv: Man wollte die südvietnamesischen Führer wie Präsident Thieu - deren Intransigenz Kissinger ja zunächst angestachelt hatte - davon überzeugen, daß ihre Befürchtungen wegen eines amerikanischen Rückzuges übertrieben waren. Dies war eine weitere Hypothek auf die »geheimen Zahlungen« von 1968.

Als sich im April und Mai 1975 der unvermeidliche Zusammenbruch in Kambodscha und Vietnam ereignete, waren die Kosten unendlich viel höher, als sie es sieben Jahre früher gewesen wären. Diese verheerenden Jahre endeten, wie sie begonnen hatten - mit einem Spiel von Draufgängertum und Täuschung. Am 13.Mai 1975, unmittelbar nach der Machtergreifung der Roten Khmer entführten kambodschanische Kanonenboote ein amerikanisches Handelsschiff, die »Mayaguez«. Das Schiff wurde in internationalen, von Kambodscha beanspruchten Gewässern aufgegriffen und dann zur kambodschanischen Insel Koh Tang verbracht. Trotz Berichten, daß die Besatzung freigelassen worden sei, drängte Kissinger auf einen sofortigen Gegenschlag, um »Glaubwürdigkeit« zu beweisen und das Gesicht zu wahren. Er überzeugte Präsident Gerald Ford, den unerfahrenen, wenig eigenständigen Nachfolger seines amtsenthobenen, früheren Chefs, Luftwaffe und Marineinfanterie zu entsenden. Die Eingreiftruppe der Marines umfasste 150 Soldaten: 18 von ihnen wurden getötet, 50 verwundet. 23 Luftwaffenangehörige starben bei einem Flugzeugunglück. Die Vereinigten Staaten setzten eine 15000-Tonnen-Bombe gegen die Insel ein - die stärkste, nicht-nukleare Waffe, die überhaupt verfügbar war. Niemand hat die kambodschanischen Toten gezählt. Die Verluste waren sinnlos, weil sich die Schiffsbesatzung der »Mayaguez« gar nicht mehr auf Koh Tang befand, sondern einige Stunden früher freigelassen worden war. Eine spätere Untersuchung des Kongresses ergab, daß Kissinger dies durchaus hätte wissen können - entweder durch Abhören des kambodschanischen Rundfunks oder durch Kontakt mit der Regierung eines Drittlandes, welche die Freigabe des Schiffes und seiner Crew in Verhandlungen erreicht hatte. Man verhielt sich hier gerade so, als ob die Kambodschaner, in diesem Monat von 1975, noch daran gezweifelt hätten, daß die US-Regierung entschlossen war, tödliche Gewalt einzusetzen.

In Washington, D.C., gibt es ein bekanntes, feierliches Denkmal für die amerikanischen Toten des Vietnam-Krieges. Bekannt als das Vietnam Veterans Memorial trägt es einen Namen, der ein wenig irreführend ist. Ich nahm 1982 an der sehr bewegenden Einweihung teil und stellte fest, daß die Liste der fast sechzigttausend Namen nicht in alphabetischer, sondern chronologischer Ordnung in die Mauer eingeschrieben wurden. Die ersten Namen erscheinen 1959 und die letzten paar Namen 1975. Die geschichtsbewußteren Besucher kann man manchmal sagen hören, sie hätten nicht gewußt, daß die Vereinigten Staaten bereits so früh und noch so spät in Vietnam engagiert waren. Die Öffentlichkeit sollte davon auch gar nichts wissen. Die ersten Namen stammten aus jenen verdeckten Einheiten, die durch Colonel Edward Lansdale ohne Zustimmung des Kongresses entsandt wurden, um dem französischen Kolonialismus entgegenzutreten. Die letzten Namen sind diejenigen, die beim Fiasko um die »Mayaguez« dahingeopfert wurden. Es brauchte einen Henry Kissinger, um zu gewährleisten, daß jener furchtbare Krieg, den zu verlängern er mitgeholfen hatte, mit derselben schändlichen Heimlichkeit endete, mit der er begann.

Aus dem Amerikanischen von Matthias Grässlin

Von Hitchens zitierte Literatur

Stephen AMBROSE (ed.), The Haldeman Diairies, 1994

William BUNDY, The Tangled Web. The Making of Foreign Policy in the Nixon Presidency, New York 1990

Clark CLIFFORD, Counsel to the President, 1991

Seymour HERSH, The Price of Power. Kissinger in the Nixon White House, New York 1983

Walter ISAACSON, Kissinger, New York 1992 (dtsch. von Jürgen Schebera u.a., Berlin 1993)

Lyndon B. JOHNSON, The Vantage Point. Perspectives of Presidency, New York 1971

Henry KISSINGER, The White House Years, Boston 1979 (dtsch. v. Hans-Jürgen Baron von Koskull, München 1979)

Richard NIXON, RN: The Memoirs of Richard Nixon, New York 1978 (dtsch. von Alan Munthe u.a., Köln, o.J.)

Anthony SUMMERS, The Arrogance of Power. The Secret World of Richard Nixon, 2000

Jules WITCOVER (ed.), The Year the Dream Died: Revisiting 1968 in America, New York 1997