In diesem und im nächsten Jahr jähren sich zum zweihundertsten Mal die Bemühungen der sogenannten »Gründerväter« der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika um das Projekt eines an die Menschenrechte gebundenen Staatswesens.
SvZ möchte sich in den nächsten Ausgaben darum bemühen, weiße Flecken auf einer »Geschichtskarte« auszufüllen, die von den wenigsten Zeitgenossen, weder heute noch in den beinahe 40 Jahren seit Gründung der Bundesrepublik, als Mangel empfunden worden sind:
Wohl weiß jeder, daß bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates über das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und die vorläufigen Aussagen zu Deutschland als Ganzem Amerika und der Geist der amerikanischen Verfassung Pate gestanden haben; das können auch heute noch die Ausführungen eines der »Väter« des Grundgesetzes, Carlo Schmid, belegen, wiewohl man es damals in Wirklichkeit mit einem eher hinderlichen Paten: Amerika als Besatzungsmacht zu tun hatte. Doch trennen erstaunliche Klüfte das »nationale« und »patriotische« Nachdenken über Deutschland in immer noch bismärckisch geprägten Rastern von den Bestrebungen und Überlieferungen, die einst die patriotische und Freiheits-Bewegung in Deutschland vor 1848 nicht nur beflügelten, sondern auch mit dem Amerika der freien Staaten verbanden.
Über diese vor 150 Jahren noch wirkenden Bestrebungen und Bewegungen in Deutschland hat sich das Reich Bismarcks gelagert. Freilich mit Gewalt, und obendrein mit einer so nachhaltig wirkenden Macht, daß alle das deutsche Denken prägenden Ideologien des 19. wie des 20. Jahrhunderts ihre Antworten auf die »nationale Frage« nur im starr bedingenden Rahmen dessen zu geben vermochten, was Bismarck mit seinem Reichsverband einst über Deutschland als »Exekutive« verhängt hat. Ein Verhängnis war das daraus Entstehende dann wohl auch.
Kein Zweifel: Den Wortführern des Parlamentarischen Rates ist es nicht gelungen, eine andere Überlieferung des nationalen Selbstverständnisses zu stiften und ins geschichtliche Bewußtsein zurückzurufen, die vor Bismarcks Reichsgründung einen Faden freiheitlicher Bestrebungen der Deutschen wieder hätte aufnehmen können.
Einheit und Freiheit schienen nur für andere Nationen zur Deckung gekommen zu sein, namentlich in der französischen und amerikanischen Republik. Von welchem Denken sich die Gründer beider Republiken leiten ließen, dafür hatten die vom Nationalsozialismus geistig und seelisch ausgelaugten Deutschen der Bundesrepublik weder Gedächtnis noch Interesse. Es ist auch nie seither durch »Veröffentlichung« der Gedanken und Ideen dieser Überlieferung geweckt worden, wenn man von zwei Ausnahmen absieht: Hannah Arendts deutscher Ausgabe von »On Revolution« und einer deutschen Ausgabe der Federalist Papers von Hamilton, Madison und Jay, die (bezeichnend oder nicht) in Österreich in den 50er Jahren erschienen ist.
Einheit und Freiheit dürften wohl auch die Markierungen sein, zwischen denen die Selbstverständigung einer »patriotischen Linken« oszilliert. Eine solche Selbstverständigung in politisch praktischer Absicht erarbeitet sich gewiß nicht in geschichtlicher Voraussetzungslosigkeit. Doch ist zu fragen, ob Geschichtskenntnis und Geschichtsbewußtsein der deutschen Linken unwillentlich solchen Wegmarken historischer und begrifflicher Deutung folgen, die ihren wirksamen Impuls eher aus einer reaktionären Sicht auf Deutschland erhalten und damit vielleicht den Anspruch verfehlen, patriotisches Denken von Links zu sein?
Wie sonst ließen sich die Verdrängungen und Verlegenheiten erklären, die immer dann auftreten, wenn die Frage gestellt wird, was »Wieder-Vereinigung« eines Gebildes heißen kann, das nie frei vereint war?
Daß die Linke heute weithin ihren emanzipatorischen Ideologien nicht mehr glaubt, scheint durch alle in den verschiedensten Organisationen angenommenen Larven hindurch. Daß sie auch den geschichtlichen Ort ihrer emanzipatorischen Bestrebungen nicht mehr genau in den Blick bekommt, deutet auf eine Orientierungskrise, in der die Partei der Grünen wohl eher als Irrlicht aufschien.
Wenn jedoch die Impulse, die sich in den sechziger Jahren gegen das regten, was an der Bundesrepublik Deutschland »Restauration« war, und deren Träger sich wohl immer noch in der Linken vermuten lassen, noch heute fortwirken und ernstzunehmen sind, dann ist nach den Bezugspunkten eines »Verfassungspatriotismus« (- von welchem als erster Dolf Sternberger gesprochen und den dann Habermas aufgegriffen hat -) zu fragen.
Es bedürfte unter anderem der Klärung, was es mit dem Begriff »Neutralismus« auf sich hat, zu dem patriotische sowie nationale Regungen und Erregungen in der heutigen bedrohten Lage der Deutschen so oft und so rasch Zuflucht zu nehmen versuchen. Jener »Neutralismus«, mit dem sich der Patriot des großen häßlichen »Verbündeten« zu entledigen meinst, ohne ihn abschütteln zu können, bleibt ohnmächtig und ohne demokratische Substanz.
»Neutralismus« gegenüber Werten, auf die auch unsere Kultur und Verfassung gegründet sein soll, kann von keinem linken Patriotismus hingenommen werden, dessen Anliegen es zugleich war und ist, sich von imperialen Fehlwegen der USA heute zu emanzipieren. Das kann keine neutralisierende Distanznahme erreichen, sondern nur offensive Kritik der amerikanischen Ideologie und politischen Kultur anhand der Grundlagen, die den Vereinigten Staaten einst von ihren »founding fathers« gelegt worden sind. Ihre eigene Melodie, durchaus, von der hierzulande nicht einmal die »Notenblätter« im Umlauf sind.
Worauf diese Andeutungen hinauswollen, wird hoffentlich die Veröffentlichung einiger Texte amerikanischer Denker aus der Gründerzeit klar machen, mit denen SvZ die Leser - mit dieser Folge beginnend - bekanntmachen möchte. - Eine Feststellung von Thomas Paine aus dem Jahre 1776 mag als Motto dienen und als Brücke vom linken Patriotismus und seinen Selbstfindungschwierigkeiten zu einer Quelle republikanischen Denkens, das in der Neuen Welt Amerikas erstmals sich verwirklicht hat und dessen Gedächtnis wiedererlangt und bewahrt werden muß, wenn demokratischer deutscher oder europäischer Patriotismus mit sich selbst identisch bleiben will.
»Europa, und nicht England, ist das Mutterland Amerikas. Diese neue Welt ist zum Asyl für die verfolgten Freunde der bürgerlichen und religiösen Freiheit aus allen Teilen Europas geworden.«
Nicht zu hoch gegriffen wäre es festzustellen, daß wir es bei den Federalist Papers mit dem ersten theoretischen Dokument zu tun haben, in dem die Begründungen für ein republikanisch verfaßtes Gemeinwesen dargelegt worden sind.
Solche Begründungen hat es zwar seit Mitte des 18. Jahrhunderts in der Aufklärungs-Öffentlichkeit zu mehreren gegeben, der Unterschied liegt jedoch darin, daß wir es hier mit Debattenbeiträgen zu tun haben, die unmittelbar in das verwoben waren, was die Gründerväter die Gründung der Freiheit nannten. Sie waren Beiträge zu einer Diskussion, die eine tatsächliche Beschlußfassung durch das Volk der Vereinigten Staaten begleiteten und einer Verwirklichung vorangingen, deren zweihundertjähriges Bestehen eine Würdigung verdient.
In der Einführung zur deutschen (österreichischen) Ausgabe der Federalist Papers lesen wir:
»Das Werk des Konvents von Philadelphia wurde dem Kongreß zur Billigung und jedem einzelnen Staat zur Prüfung und Annahme, die durch besondere Versammlungen erfolgen sollte, zugesandt. Die Einführung der neuen Verfassung war von der Annahme durch neuen Staaten abhängig gemacht worden...
Die Diskussionen, die nun einsetzten, waren heftig. Überall bildete das Werk des Konventes von Philadelphia den Gegenstand öffentlicher Erörterungen, in Zeitungen und Flugschriften setzte man sich mit ihm auseinander...
Von den Flugblättern und Zeitungsartikeln dieser Männer erlangt den bedeutendsten Einfluß die mit PUBLIUS unterzeichneten, in den Zeitungen DAILY ADVERTISER und INDEPENDENT JOURNAL erschienenen Aufsätze, welche die ausführlichste und gründlichste Antwort auf die Entwürfe der Gegner darstellen.
Von den 85 Aufsätzen, die vom 27. Oktober 1787 bis zum Mai 1788 erschienen, werden mit Bestimmtheit 51 Hamilton, 14 Madison und 5 Jay zugerechnet, bei 15 Aufsätzen ist man sich nicht schlüssig, ob sie aus der Feder Hamiltons oder Madisons stammen. Gesammelt wurden sie später unter dem Titel Der Föderalist herausgegeben. Der vom Föderalisten verteidigten Verfassung trat New York als 11. Staat am 26. Juli 1788 bei.
Am 30. April 1789, fünf Tage vor der Eröffnung der französischen Nationalversammlung, schwor der zum Präsidenten gewählte Washington auf dem Balkone der Bundeshalle vor den beiden Häusern des Kongresses und in Gegenwart einer unübersehbaren Volksmenge, daß er sein Amt treu verwalten und nach Kräften die Verfassung aufrecht halten, schützen und verteidigen wolle.«
Gleich zwei liberale Sprecher haben sich auf den Seiten der Frankfurter Allgemeinen zu den oben nur recht knapp angesprochenen Fragen zu Wort gemeldet - aus einem eher nichtigen Anlaß, dessen flegelhaftem Auslöser selbst der Bundespräsident mit einem eher wachsweichen Kontra unnötige Aufmerksamkeit angedeihen ließ und sich prompt ein Re einhandelte. Die Äußerungen des beredtesten Sprechers (FAZ vom 19.03.2001) der Freien Demokratischen Partei entbehren (wie bei ihm erwartet) nicht der Selbstdarstellungskunst (er durfte seinen kernigsten Satz ja auch am Abend zuvor in einer Gesprächsrunde schon einstudieren), sind aber dennoch bemerkenswert, weil er eine Aussage über die Rolle des deutschen Gemeinwesens (allerdings nur:) in Europa festhält, die an Klarheit und gleichzeitig auch Borniertheit, zumindest beschränkter Europa-Zentrierung nicht zu wünschen übrig läßt:
»An die Stelle des Grenzlandes im Kalten Krieg ist das Scharnier für das zusammenwachsende Europa getreten. Doch ein Scharnier kann nur funktionieren, wenn es selbst fest verankert ist, um in alle Richtungen beweglich zu sein. Die deutsche Nation kann ihre vermittelnde Funktion im zusammenwachsenden Europa zwischen Ost und West nur wahrnehmen, wenn sie sich selbst vergewissert über ihre Herkunft, ihre Gegenwart und ihr Bewußtsein. Dazu gehört mehr als Verfassungspatriotismus, dazu gehört ein gesundes Maß an Stolz auf unser Land.«
Soweit der Vorsteher der liberalen Partei. Einer seiner Ziehväter, der Mann im Hintergrund der deutschen Liberalen, Vorsitzender des Vorstands der Friedrich-Naumann-Stiftung und europäischer Vorsitzender der Trilateralen Kommission, zugleich der wichtigste deutsche Verhandlungspartner (für die deutsche Industrie) mit dem Komplex in den USA, den Norman Finkelstein polemisch, aber treffend als »Holocaustindustrie« gekennzeichnet hat, Dr. Otto Graf Lambsdorff (- leider können hier nicht alle Funktionen aufgezählt werden -) hat trotz all seiner zeitraubenden Tätigkeiten eine Gelegenheit gefunden und sich aus Anlaß des 250sten Geburtstages von James Madison eine »Lektion für Verfassungsväter« entrungen (FAZ vom 16.03.2001).
Wir hätten es schon anläßlich des 200sten Jahrestages der Inkraftsetzung der amerikanischen Verfassung, als der hier wiedergegebene Aufsatz zur Einleitung der Erstveröffentlichung der »Federalist Papers« (in einer Auswahl) in der Bundesrepublik Deutschland (sic!) erschien, nämlich 1988 in den Studien von Zeitfragen, als auch der Parlamentarische Rat der deutschen Verfassungsgeber sein 40stes Jubiläum feierte, eifrigst gewünscht, wenn in der deutschen Öffentlichkeit auf dieses Jubiläum breit und intensiv eingegangen worden wäre. Aber wir müssen da nahezu alles überlesen haben: In deutschen Zeitungen fanden wir dazu nichts; ebenso wenig fanden wir eine in Deutschland erschienene deutsche Ausgabe der Federalist Papers, sondern lediglich die Übersetzung von Felix Ermacora, die in Österreich in den 50er Jahren erschienen war. Daher der Abdruck in den Studien. Erst 1993 hat Barbara Zehnpfennig eine vollständige deutsche Ausgabe im Verlag der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft herausgebracht.
Doch diese Ausgabe hat der Graf anscheidend auch nicht so gründlich gelesen, weil in seiner, zugegeben kurzen, Darstellung James Madison dem eiligen Leser der FAZ als Hauptautor der Aufsätze in den Federalist Papers erscheinen muß, was er durchaus nicht war. Die allermeisten der Artikel in dieser Sammlung sind allerdings genial, nur verfaßt sind sie von Alexander Hamilton, der allerdings dem Grafen nicht geheuer sein mag und als ein zentralistisches Ungeheuer vorkommen muß. Aber nicht nur deswegen wohl sieht er eher mißbilligend über Hamilton hinweg, so viele richtige Kennzeichnungen und Darstellungen seine Bemerkungen in der FAZ sonst enthalten mögen.
Man kann aus seinen Zeilen auch herauslesen, daß ihm die Idee einer Nationalbank mit Fug ein Graus sein muß und er es Madison ankreidet, daß jener nicht lebenslang und unermüdlich gegen dieses Gespenst aufgetreten ist. Der Gründer dieser Nationalbank war indes kein Geringerer als eben Hamilton, und die theoretische und praktische Grundlage für eine solche außergewöhnliche Bank, die zugleich das Gemeinwesen und das Vermögen der Nation (als Rechtsgebilde über den Einzelstaaten) bildet, hatte Hamilton als Finanzminister Washingtons in seinen »Reports On Credit« und »Reports on Manufacture« begründet.
Alle heute bestehenden Zentralbanken mögen zentralistisch sein oder privaten Anteilseignern gehören bzw. ihnen unterworfen sein wie die Federal Reserve. Keine einzige gleicht nur annähernd dem genialen Entwurf, mit dem die kurzlebige und nur zu bald den Privatinteressen geopferte amerikanische Nationalbank in die amerikanische Geschichte eingetreten ist. Und einzig das Bundesbankgesetz würde es erlauben, die Entscheidungen der Bank tatsächlich dem Willen des Souveräns, des deutschen Volkes, auch gegen den Willen des Bank-Direktoriums zu unterwerfen. Was wäre, wenn die noch unfertige und ungefestigte Stellung der Europäischen Zentralbank sich Hamiltons Nationalbankentwurf zum Vorbild nähme und nach den Gedanken von Hamiltons »Report on Credit« den Souveränen-Anteilseignern (den Souveränen als Anteilseignern) dieser Bank ihre Rechte zurückgäbe? Für den Grafen Lambsdorff und seine liberalen Kollegen in der Trilateralen Kommission wie Paul Volcker gewiß ein Alptraum...
Aber einstweilen braucht er sich gewiß im Blick zum Beispiel auf den amtierenden Finanzminister in Deutschland nicht zu sorgen. In dessen Schule wurden die Lehren der amerikanischen Verfassungsväter, wie der Verfasser dieser Zeilen bedauernd festgestellt hat, nicht behandelt. Aber was wäre, wenn der Finanzminister irgendwann doch auf die Lektüre der Schriften Hamiltons neugierig würde? Wenn zum Beispiel entweder die endgültige Einführung des Euro oder das globale Finanzsystem oder beides in einem Desaster zusammenfallen würden; wenn alle drei Leitwährungen die Forderungen, die sie als solche in Gestalt von Geld und Kapital im Besitz anarchisch agierender privater Investoren, groß oder klein, gegen das Volksvermögen der jeweiligen Wirtschaften souveräner Staaten repräsentieren, auf der Turmhöhe nicht mehr bedienen können, zu denen die Selbstverwertung des Finanzkapitals akkumuliert worden ist; wenn also, kurz gesagt, die derzeit bestehenden Banken im Verbund der BIZ sowohl nach außen als nach innen ihren Verpflichtungen zur Bereitstellung von Währung als Zahlungsmittel nicht mehr nachkommen können, ohne den Überschuß an Forderungen mit ungedecktem Geld zu bedienen und damit alle Forderungen, auch die auf physische Güter, abzuwerten, was gemeinhin Inflation genannt wird. In solchen, selbstredend derzeit als abwegig abgetanen Situationen, wird man sich sogar in den USA und anderswo auf die Klassiker besinnen und vielleicht sogar bei Hamilton nachlesen, was in einer solchen Katastrophe aus diesen alten Schriften zu lernen wäre.
Dem Grafen Lambsdorff ist durchaus zu danken, daß er überhaupt auf die Existenz einer Nationalbank in den jungen Vereinigten Staaten, wenn auch mit leise anklingendem Abscheu, hingewiesen hat. Aber das gehört schließlich zu den Aufgaben einer freiheitlichen Einrichtung zur politischen Bildung wie der Friedrich-Naumann-Stiftung, deren Chef er ja ist.