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Verfassungskrisen

Von David Hartstein
 

»Ich dachte an Benjamin Franklin, ältestes Mitglied des Verfassungskonvents für die Vereinigten Staaten in Philadelphia, der auf die Frage einer jungen Dame: ›Dr. Franklin, was haben Sie uns gegeben?‹ zur Antwort gab: ›Eine Republik, wenn Ihr sie bewahren könnt.‹ – Wir haben sie bewahrt.« Senator Robert Byrd am 23. Mai.

»Was für eine Europäische Union enthält der ›Vertrag über eine Verfassung für Europa‹, Monsieur d`Estaing?« wurde der Vorsitzende des Verfassungskonventes bei der Sitzung des Bundesrats von einem wißbegierigen Landesregierungsmitglied gefragt. »So etwas wie einen Deutschen Bund - zwischen 1815 und 1848.«

Die eine Äußerung stellt erleichtert die vorläufige Abwendung der sogenannten »Nuklearoption« fest, mit der die republikanische Mehrheit die Rechte der Minderheit im Senat auf Aufschub von Abstimmungen und Fortsetzung der Debatte bei Amtsernennungen zugunsten von Abstimmungen mit einfacher Mehrheit statt mit der Mehrheit von mindestens 60 der 100 Senatoren kassieren wollte. Eine erstmals seit langer Zeit zustandegekommene überparteiliche Senatsgruppe zur Verhinderung einer Verfassungskrise hat damit vorläufig die Durchsetzung einer Einparteienregierung in allen drei Gewalten unter der Vormundschaft der Präsidialexekutive eingedämmt und eine alte Verfahrensregel zum Schutze der Minderheit der Vertreter der Einzelstaaten gerettet, mit der noch im 19ten Jahrhundert die Sklavenhalterstaaten jahrzehntelang ihre Sonderrechte gegen die amerikanische Verfassung zu wahren imstande waren und die heute als nahezu einziger verfassungsgemäßer Behelf die Vereinigten Staaten vor Staatsstreichen der Präsidialexekutive und einer Einparteienherrschaft bewahren kann.

Die andere Äußerung ist erfunden. Doch weder als Kennzeichnung des Organisationsaufbaus der Europäischen Union im Vertrag über eine europäische »Verfassung« noch als Zustandsbeschreibung der politischen Klasse in Bundestag und Bundesrat läßt sich eine solche Äußerung als bloß polemische Verzerrung und als unbeträchtlich abtun. Mehr als ein in europäische Wolken emporgehobenes Konstrukt wie der Deutsche Bund nach Verwerfung des Verfassungsentwurfs Wilhelm von Humboldts für Deutschland 1814 auf dem Wiener Kongreß kann nach diesem Vertrag die Europäische Union nie sein. Alle darin zusammengefaßten Staatsapparate und zwischenstaatlichen Gremien, Instanzen und Organe entbehren der elementaren Voraussetzungen von Verfassungsorganen, die als Verfassungsgeber das Vorhandensein und den Willen eines Staatsvolkes, eines staatsbildenden Volkes zur logischen (und auch naturrechtlichen) Voraussetzung haben.

Nicht zuletzt haben sich die Repräsentanten, die in Deutschland anstatt des unberechenbaren Volkes über diese unlesbaren 349 Seiten abgestimmt haben, auch so subaltern verhalten wie alle Repräsentanten in der Zeit nach dem Wiener Kongreß bis zur ersten deutschen Nationalversammlung in Frankfurt.

Man kann sich mit lächelnder Beobachtung des europäischen Überschwangs beruhigen und wie der frühere Verfassungsrichter Grimm in der FAZ zu dem Schluß kommen, daß es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt, geschlossen von den nationalen Regierungen und ratifiziert in den Mitgliedstaaten nach den Vorschriften ihrer Verfassungen. Grimm beschreibt den Unterschied zur amerikanischen Bundesverfassung so:

»Sie bliebe, was sie ist, nämlich ein Verbund von Staaten, der selber kein Staat ist. Anders als die Convention von Philadephia 1787, die den Auftrag hatte, die Articles of Confederation zu reformieren, jedoch eine ganz neue, echte Verfassung schuf und eben dadurch die Confederation der amerikanischen Einzelstaaten in einen (Bundes-)Staat verwandelte, hat der Konvent von Brüssel 2003 lediglich eine Reform der bestehenden Verträge vorgenommen, der er den Namen ›Verfassung‹ gab.«

Wenn da nicht einerseits die Stipulation des Vertragswerks als über dem Recht der Mitgliedstaaten stehend wäre und die Usurpation des Vertrags als eine Verfassung der Europäischen Union schon in Artikel I-1 so gefaßt wird: »...begründet diese Verfassung die Europäische Union, der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen.«

Aber damit nicht genug. Für den Verfassungstag am 23. Mai hatte sich am Abend zuvor der amtierende Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland für den Wähler-Souverän ein exquisites, auch durchaus persönlich gefärbtes Überraschungsgeschenk ausgedacht. Gegen alle Verfahrenshemmnisse und Bedenken will er jetzt das gesamte deutsche Volk zu einer Entscheidung (doch einer Volksabstimmung?) darüber nötigen, die aus seiner Sicht »notwendige Fortführung der Reformen« zu unterstützen - oder eben nicht.

In diesem »eben nicht«, dann(!) eben nicht, liegt das Quentchen Verwegenheit, das ihm Heerscharen von Kommentatoren als Verdienst schon jetzt ans Revers heften, wenn nur dabei die ›Sozialdemokratie‹ als Partei sowie der hartnäckige Widerstand des sozialen und demokratischen Volksempfindens von den Bildflächen der Macht verschwinden.

Ein altgedienter Wahlkampftaktiker wie Albrecht Müller, der sich zugute halten kann, beim größten Wahlerfolg der SPD in ihrer Geschichte, 1972, auf dem Feldherrnhügel dabeigewesen zu sein (und der über den Bedingungsrahmen einer außerordentlichen Bundestagswahl daher genau Bescheid weiß), zermartert sich in den NachDenkSeiten den Kopf darüber, wie jemand einen so eisernen Kanzler darstellen kann , daß er mit den angestrebten vorgezogenen Bundestagswahlen den Ruin der SPD zu besiegeln droht. Doch bei all den hier vorgebrachten nachdenkenswerten Überlegungen fängt womöglich der Beitrag schon mit der falschen Überschrift an, nämlich: »Ein Befreiungsschlag...« und hört mit einer unzureichenden Zuweisung von Subjekt des Sprechers und Objekt des Nachdenkens auf, nämlich so:

»Warum macht Schröder das? - Ich bin ratlos. Rational kann ich mir diesen Vorgang nur erklären, wenn ich unterstelle, daß Schröder in die neoliberale Bewegung eingebunden ist und seit längerem deren Interesse und nicht mehr die Interessen der SPD und der Mehrheit der Bevölkerung vertritt. Hinweise, die diese Vermutung entkräften, nehme ich von Herzen gern entgegen.«

Hier ist ein Hinweis, aber keine Entkräftung - sie könnte von Gerhard Schröder, dem Amtsinhaber selber kommen:

»Warum mache ich, Gerhard Schröder, Bundeskanzler aller Deutschen, das? - Ich bin ratlos. Rational kann ich mir diesen Vorgang nur erklären, wenn ich unterstelle, daß ich in die neoliberale Bewegung eingebunden (oder von ihr eingekreist) bin und seit längerem deren Interesse und nicht mehr die Interessen der SPD und der Mehrheit der Bevölkerung vertrete. - Bei einer Neuwahl könnte ich vielleicht diese Einkreisung und den Belagerungszustand sprengen...«

Um welche Einkreisung es sich für Schröder (und Chirac) handelt, seit sich die SPD-Führung nach den gerade noch gewonnen Wahlen 2002 auf die vorbehaltlose Übernahme und musterschülerhafte Durchführung der europäischen Agenda 2010 eingelassen hatte, wurde vom Bundeskanzler vor dem zeitweilig entlastenden Treffen im März mit Zapatero und Chirac sowie dem dann hinzukommenden Putin noch ziemlich klar ausgedrückt:

»Es geht auch um eine stärkere Respektierung der primären Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Wirtschafts- und Finanzpolitik. Nur dann werden die Mitgliedstaaten bereit sein, ihre Politik konsequenter an den im Rahmen der Lissabon-Strategie vereinbarten wirtschaftlichen Zielen der EU auszurichten.«

Daß sich diese primäre Zuständigkeit auch nur in diesem relativ eingegrenzten, pragmatischen Bereich, der schon lange in Deutschland zum Notstandsbereich geworden ist, gegen das Paragraphenwerk des »Verfassungsvertrages« Geltung verschaffen könnte, ist eine Illusion, der sich der ab- und zustimmende Teil der politischen Klasse umso hingebungsvoller überläßt, je häufiger es gelingt, mit dem hehren Wort der Verfassung die europaweite Zuständigkeit von Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Europäischem Gerichtshof über nahezu alle nationalen Belange hinweg zu umsäumen.

Daß aber umgekehrt durch die beiden Abstimmungen der Bundesorgane verfassungsrechtens kein Jota an Zuständigkeit an die verfassungsrechtliche Chimäre der Europäischen Union abgetreten worden sein kann, erschließt sich aus der Klageschrift, die Karl Albrecht Schachtschneider als Verfahrensbevollmächtigter für das Mitglied des Bundestages Gauweiler abgefaßt hat.

Wenn es nur um eine Regierungskrise der maroden Mesalliance von Sozialdemokratie und Grünen ginge und wenn es obendrein möglich wäre, von heute auf morgen nahezu alle Paradigmen oder auch nur Sprachregelungen zu ändern, nach denen diese Regierung wider besseren Rat seit fünf Jahren sich zum selbstabschmelzenden Grenzträger der Interessen (hinter) der »Globalisierung« hat gebrauchen und mißbrauchen lassen, dann wäre eine solche Einkreisung vielleicht zu sprengen. Aber dazu müßte man mindestens eines über sich bringen, was Politikanten in aller Regel nicht leisten können: Fehler erkennen und öffentlich eingestehen. Und daß Hartz IV beispielweise nicht nur ein Vertrauensbruch gegenüber den Ansprüchen der lebenslang arbeitenden Versicherten, sondern auch aus fiskalischer Engsicht ein riesenhafter Mißerfolg - ein Fehler - ist und wird, dämmert nun.

Wenn der Bundeskanzler nun den Panthersprung aus einer Regierungslähmung in die kleine Verfassungskrise einer dem Bundespräsidenten mit Artikel 68 des Grundgesetzes zu verkaufenden Bundestagsauflösung nach Simulation einer Abstimmung ohne Regierungsmehrheit (oder das Derivat dazu: wenn sich die SPD mit ihrem Partner nicht über den Weg zu Neuwahlen einigen kann) und einer gescheiterten Vertrauensfrage (gleichzeitig als Simulation seines Vorgängers Kohl) wagen will, beschert er sowohl dem Bundespräsidenten als auch dem Bundesverfassungsgericht nachdenkliche und arbeitsreiche Tage und Wochen.

Der Abgeordnete Willy Brandt am 13. Oktober 1982:

 »Dies ist, Herr Bundeskanzler, ... nicht die Situation von vor zehn Jahren ... Es drängt sich hier die Frage auf ..., ob wirklich die zeitliche Begrenzung eines Regierungsmandats durch Koalitionsvereinbarung und ergänzende Fraktionserklärungen genügen soll, um die ... Auflösung des Bundestages zu ermöglichen. Wir Sozialdemokraten werden jedenfalls den weiteren Verlauf des Verfahrens ... daraufhin beobachten, ob hier erstmalig ein Beispiel dafür gegeben wird, daß ein Bundeskanzler ... mit seiner Parlamentsmehrheit das Ende einer Legislaturperiode des Bundestages nach eigenem Ermessen herbeiführen kann ... Politische Gründe für die zeitliche Begrenzung und die Erneuerung eines Regierungsmandats durch Wahlen lassen sich auch für andere, künftige Fälle denken. Nun können wird doch alle wohl nicht wollen, daß eine jeweilige Regierung mit ihrer jeweiligen Mehrheit den ihr günstig erscheinenden Neuwahlzeitpunkt selbst aussucht, statt in der vom Grundgesetz bestimmten Vierjahresfrist ihre Aufgaben zu erfüllen und sich danach den Wählern zu stellen; das ist die Grundlage der Verfassung ... Da Sie, Herr Bundeskanzler, auch schon das Empfinden hatten, daß es einer neuen Entscheidung der Wählerinnen und Wähler bedürfte, sage ich auch nach der heutigen Einlassung, daß Sie sich am besten zum verfassungsrechtlich ganz unproblematischen Rücktritt hätten entschließen sollen ... Wir Sozialdemokraten wollen die Neuwahl, und wir bestehen auf ihr. Aber wir haben nicht Anteil an dem Risiko eines Scheiterns, das sich aus dem von der Regierung und den Regierungsparteien mit robuster Dickfelligkeit festgehaltenen Weg über die fiktive Vertrauensfrage (Hervorhebungen SvZ) ergeben kann ...«.
(StenBer. des Bundestages,
S. 8940 ff.)

Auch wenn Bundespräsident Köhler als ehemaliger Staatssekretär und als Chef des IWF gleichermaßen in der leichtfertigen Abtretung wie in der anmaßenden Verletzung von Hoheitsrechten einige Erfahrungen gesammelt hat, so dürfte es ihm und seinen juristischen Beratern doch schwerfallen, bei beiden ihm zugewiesenen Ermessensentscheidungen zu übersehen, daß weder die Zustimmung zur europäischen Verfassung noch zu einer wie auch immer simulierten Auflösung des Bundestages verfassungsrechtlich legitim sind.

Das Gewicht der Argumente gegen den europäischen Verfassungsvertrag wiederum, die vom Bevollmächtigten Gauweilers, Professor Schachtschneider vorgetragen werden, sowie die 280seitige Verfassungsklage zeigt nicht nur, daß, was »Europäische Verfassung« genannt wird, nicht nur mit dem Verfassungsdenken und den Definitionen des Grundgesetzes, wie sie Carlo Schmid 1948 theoretisch und in weiser Voraussicht vorgetragen hat, sondern auch mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des deutschen Grundgesetzes von Artikel 1 bis 23 kaum etwas gemein hat. Teile der »Europäischen Verfassung« weisen eine überschießende Redundanz an Bestimmungen auf, die logisch-systematisch in einer Verfassung nichts zu suchen haben, sondern sich eher wie Verordnungen der Kommission lesen; die Anzahl an Bestimmungen übertrifft die der Verfassung der Vereinigten Staaten 100fach, es sind etwa fünfmal so viele Bestimmungen wie in der französischen und immerhin etwa dreimal so viele wie im Grundgesetz.

Genauso leichtfertig, wie die dem Bundeskanzler Schröder von der Verfassung anvertraute Richtlinienkompetenz mit der Mandatsdauer des obersten Gesetzgebungsorgans Bundestag umzugehen sich anschickt, haben die Mitglieder dieses Organs in ihrer überwältigenden Mehrheit mit der Zustimmung zum Vertrag über die Europäische Verfassung sich mindestens über Artikel 20 des Grundgesetzes hinweggesetzt: die Kernbestimmung des Grundgesetzes außer Kraft gesetzt, wenn nicht gar gebrochen. Artikel 23 erlaubt dem Gesetzgeber die Gewährung oder Abtretung von Hoheitsrechten an die Europäische Union oder auch andere zwischenstaatliche völkerrechtlich legitimierte Organisationen, aber nicht die Abtretung des Hoheitsrechtes des Staatsvolkes selber. Sie erlaubt dem Gesetzgeber nicht das Zuwiderhandeln gegen Artikel 20, Absatz 2, wonach alle Staatsgewalt vom Volke, das heißt: dem deutschen Volke ausgeht.

Hat das deutsche Volk seine Zustimmung dazu gegeben, daß nach ARTIKEL I-6 der ›Europäischen Verfassung‹ »die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der der Union übertragenen Zuständigkeiten gesetzte Recht Vorrang« hat »vor dem Recht der Mitgliedstaaten«? Hat das deutsche Volk irgendwann in den letzten Wochen oder davor wissentlich seine Souveränität, die Staatsgewalt, die von ihm ausgeht, soweit aufgegeben, daß eine Art Nachbau des Deutschen Bundes zwischen 1815 und 1848 ihm und über ihm künftig kraft einer ›Verfassung‹, die die Staatsapparate der Unionsmitglieder im Konzert dirigieren, Recht setzen kann und darf?

Diejenigen Volksvertreter, die diesen unlesbaren Verfassungsvertrag kennen (gewiß nicht sehr viele) und ihm zugestimmt haben, haben zuvor nahezu alles unterlassen, um die von ihnen Vertretenen, von denen ihnen die Teilgewalt der Gesetzgebung auf Zeit anvertraut worden ist, über den Sachverhalt, daß das Recht der EU künftig über dem Recht steht, das aus der deutschen Verfassung geschöpft oder abgeleitet wird, wissend zu machen. Wenn es aber stimmt, daß sich alles fortgeschriebene oder gesetzte Recht auf die Grundordnung der Verfassung Deutschlands, des Grundgesetzes gründen und danach begründen muß, dann muß gesagt werden, daß eine endgültige Zustimmung durch die Unterschrift des Präsidenten ohne Befragung eines vorher kundig gewordenen Staatsvolkes an den Tatbestand und Fall grenzt, der in Artikel 20, Absatz 4 deutlich gekennzeichnet ist.

Wenn irgendwo klarer werden könnte, daß ein im Konsens der Staatsapparate gesetztes Recht im Europäischen Bund keine Bereicherung, sondern eine Minderung des im Grundgesetz verfaßten Rechts zur Konsequenz hat, so in der Gegenüberstellung zweier kurzer Sätze. Der Verfassungsvertrag stipuliert in Artikel II-61: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.« - Artikel 1 des Grundgesetzes dagegen setzt allen Verfassungsbestimmungen voraus, erkennt an und bindet: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.«

Niemand wird die Klarheit und objektive Garantie des ersten Satzes im Grundgesetz mit der Verbindlichkeit eines Verkehrszeichens im EU-Verfassungsartikel eintauschen wollen; selbst dann nicht, wenn er nur Stilunterschiede zu verstehen fähig ist. Es fällt vielleicht einem ›säkularen‹ Europa zu schwer, irgendeinen Gottesbezug dieses Kulturraumes als Werte bildend zu vernehmen und in eine Verfassung aufzunehmen. Es dürfte aber bei aller ›Erinnerungskultur‹ nicht schwer fallen, dessen eingedenk zu sein, daß in diesem ersten Absatz die Erfahrung des Schreckens und die Lehren von 12 Jahren nationalsozialistischen Losgelassenseins staatlicher Gewalt nachzittern und von den Verfassungsgebern des Parlamentarischen Rates als unvergänglich und unaufgebbar gedacht und befürwortet wurden.

Eine Zustimmung des Bundespräsidenten würde mithin die Gültigkeit des Grundgesetzes für das deutsche Volk und die deutschen Staatsbürger in der Europäischen Union in Frage stellen und mindestens in grundlegenden Teilen außer Kraft setzen.

Herrschaft und Staatsgewalt in Deutschland würde endgültig dem Konsens und der Legitimation durch Verfahren der europäischen Staatsapparate und der Europäischen Bürokratie als Organ der Kompetenz-Kompetenz überantwortet - Organen, die niemals von einem Souverän konstituiert worden wären.

Was die Konsensbildung in den Organisationen und Apparaten der EU seit 15 Jahren vorherrschend bedingt und auch die neue Verfassung des Europäischen Bundes bestimmt, ist aber nichts anderes als ein Konsens, der seinen Namen von der Hauptstadt herhat, gegenüber der die Friends of Europe Davignons und D`Estaings mit den noch hochmögenderen Gremien im Hintergrund ihr sanftes Empire zu errichten wähnen, mit dem sie sich jedoch über die Verfassung der Gesellschaft seitdem einig sind und bleiben: dem Marktfundamentalismus des ›Washington Consensus‹.

Dieser ›Konsens von Washington‹ und seine dogmatische Befolgung und Anwendung durch alle Ober- und Unterpriester des spekulativen Empirismus in der Welt-Ökonomie hat über das Aufbegehren aller Dissidenten und Spätbesserwisser - wie zum Beispiel Joseph Stiglitz - hinweg die spekulativ durchherrschte Weltwirtschaft an den Rand des allgemeinen Kollapses gebracht.

Davor kann man, den heraufziehenden vollständigen Sturm dumpf erahnend, entweder wie der deutsche Bundeskanzler durch die Flucht in Wahlen mit dem Ruf nach Verständnis und Zustimmung sich selbst betäuben oder mit »dann eben nicht« abtreten. Man kann dagegen aber auch, wie der rancunetrunkene Tölpel im Weissen Haus, sich zu allen nur erdenklichen Mitteln der Gewalt raten lassen, um der Welt und den andern Gewalten der amerikanischen Verfassung den Willen des hohlen Empires von Uncle Sam $ aufzuzwingen.

Die letzten statischen Verankerungen der amerikanischen und weltinnenpolitischen Kräfteverhältnisse in der Verfassung der Vereinigten Staaten könnten einstürzen wie die Türme des World Trade Centers, wenn es der republikanischen Mehrheitsführung unter dem Druck des Weissen Hauses und des Senatsvorsitzenden, des Vizepräsidenten Dick Cheney, im Senat gelänge, gegen den Widerstand der Minderheit doch noch eine Änderung der Geschäftsordnung des Senats zu erzwingen, mit der nicht nur die Rechte der Minderheit bei Debatten und Abstimmungen über Richternominierungen beseitigt würden, sondern auch die wenigen noch verbliebenen Rechte aus den Vier Freiheiten.

Eine Verfassungskrise in den USA, an deren Ausgang eine Einparteiherrenschaft in Verbindung mit einer Präsidialdiktatur zustandekommen könnte, brächte den Vereinten Nationen und der internationalen Diplomatie nicht nur die vergleichsweise unappetitliche Nominierung des »diplomatischen Kampfhundes« Bolton, sondern auch das Losgelassensein aller Mittel der Staats- und Militärgewalt des US-Empires. Dagegen wäre eine erschlichene vorgezogene Bundestagswahl allerdings, selbst wenn sie auch noch der irregeleiteten Kompetenz der Regierung Schröder Zustimmung erteilen würde, verfassungsrechtlich, politisch und existentiell Peanuts, wenn nicht zugleich mit diesem verwegenen Handstreich eine wirklich freie Öffentlichkeit in Deutschland entstünde, in der diese Einsicht nach- und eingeholt werden könnte:

»Die Definition der Deutschen war es doch, daß sie sich bis zu dem Punkt hinaufgebildet hatten, den Grund zu ihrer Verfassung im Geiste selbst zu wissen.«

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Leserbrief

Kontext

Carlo Schmid 1948:
Verfassung denken -
Wirklichkeit definieren

MdB Dr. Peter Gauweiler
Organklage
Verfassungsbeschwerde
Antrag auf andere Abhilfe
Antrag auf einstweilige Anordnung

Vor fünf Jahren:
Neue Mitte aus den Ruinen der CDU?

Die Vereinsamung der Ökonomen im Tower of the Euro
und das Ende der Gemütlichkeit für Zentralbankiers

Albrecht Müller in NachDenkSeiten:
Ein Befreiungsschlag für die neoliberale Ideologie - und für Schröder persönlich

Untergänge in Deutschland:
Vierzehnheiligen: das Ende der Episode Preußen
in Deutschland